Update September 2021:
Am 15. September 2021 gab die Vorverfahrenskammer des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) ihre Entscheidung bekannt: eine Untersuchung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit wegen Mordes zwischen dem 1. November 2011 und 16. März 2016 wird stattfinden. Auf 41 Seiten erläutert der IStGH die Ergebnisse der Voruntersuchung, wichtige Resultate sind beispielsweise: die Tötungen gehören zur Staatspolitik und können weder als „legitim noch als bloße Exzesse“ der Drogenbekämpfung angesehen werden; Präsident Rodrigo Duterte forderte zu Ermordungen auf; es besteht ein eindeutiger Zusammenhang zwischen den Morden und der offiziellen Antidrogenkampagne der Regierung und Parallelen zu den Morden in Davao City während Dutertes Amtszeit als Bürgermeister; Untersuchungen des philippinischen Rechtssystems sind unzureichend; es sind mehrheitlich arme Bevölkerungsgruppen betroffen.
Die philippinische Regierung beharrt weiterhin darauf, dass der IStGH keine Rechtsprechung mehr über die Philippinen habe und will bei den Untersuchungen nicht kooperieren. Dutertes Regierung will dem IStGH demnach weitere Untersuchungen und Beweisermittlungen vor Ort verwehren und Mitglieder des IStGHs nicht einreisen lassen. Neri Colmenares, Regierungskritiker und Spezialist für internationale Menschenrechte, sagt, dass eine Untersuchung auch durch digitale Kommunikation und Treffen in Drittstaaten möglich sei. Außerdem kann der IStGH Haftbefehle vor Anklageerhebung ausstellen, beispielsweise wenn die mutmaßlichen Verbrechen weiter andauern oder Beweismittel vernichtet werden. Verhaftungen können vorerst allerdings nur im Ausland vollstreckt werden, wenn der jeweilige Staat den Haftbefehl des IStGH anerkennt.
Die Menschenrechtsorganisation Karapatan sieht die Entscheidung des IStGH als „einen großen Schritt zur Isolierung und Entlarvung von Verbrechern wie Duterte.“ Auch kann sich die Untersuchung auf die anstehenden Wahlen auswirken, so sagt Colmenares: „Es wird diejenigen geben, die Duterte vor Gericht bringen wollen, und diejenigen, die ihn vor Strafverfolgung und Inhaftierung schützen wollen.“
Betroffene und Hinterbliebene des sogenannten Krieges gegen die Drogen unterstützen eine Untersuchung des IStGH. So gingen für die Voruntersuchung zum 13. August 2021 insgesamt 212 kollektive sowie einige individuelle Repräsentationen für insgesamt 1503 individuelle Opfer und 1050 Familien ein. Laut der Registry’s Victims Participation and Reparations Section (VPRS) des IStGH wünschen 94% der Opfer eine umfassende Untersuchung – mit folgenden Motivationen: die Identifizierung und Bestrafung der Täter*innen; Beendigung der Straflosigkeit; Verhinderung künftiger Verbrechen; die Wahrheit darüber zu erfahren, was den Opfern widerfahren ist, und ihre Namen von falschen Anschuldigungen zu befreien; und
den Stimmen der Opfer Gehör zu verschaffen. Nur fünf der Repräsentationen wünschen wegen der Angst vor Repressalien und Retraumatisierung keine Untersuchung.
Hintergrund: Am 14. Juni 2021 reichte Fatou Bensouda, die (mittlerweile ehemalige) Chefklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH), den formellen 57-seitigen Antrag zur gerichtlichen Autorisierung zur Untersuchung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Kontext des sogenannten Kriegs gegen die Drogen ein. Laut Bensouda gibt es fundierte Informationen über Verbrechen gegen die Menschlichkeit im zu untersuchenden Zeitraum zwischen dem 1. Juli 2016 und dem 16. März 2019 durch extralegale Tötungen (EJK) an zwischen 12.000 und 30.000 Zivilist*innen. „Polizei und andere Regierungsbeamt*innen planten, befahlen und verübten manchmal selbst extralegale Tötungen,“ und die unterstützenden öffentlichen Äußerungen staatlicher Vertreter*innen schafften eine Kultur der Straflosigkeit. Im Antrag benennt Bensouda nicht nur Duterte, sondern auch den Senator Ronald dela Rosa, den ehemaligen Justizminister Vitaliano Aguirre und Mitglieder der sogenannten „Davao Death Squads“ (DDS). Auch beantragt sie die Miteinbeziehung unterstützender Materialien ab dem 1. November 2011, wodurch Duterte bei Gewährung auch für sein Betreiben des DDS als damaliger Bürgermeister von Davao zur Rechenschaft gezogen werden könnte.
Der IStGH fordert Hinterbliebene und Betroffene des sogenannten Kriegs gegen die Drogen bzw. deren Vertretungen auf, ihre Unterlagen zu ihren Fällen bis zur Frist am 13. August einzureichen, bevor die Vorverfahrenskammer des Gerichtes endgültig über den Antrag zur Untersuchung entscheidet. Organisationen, die Betroffene vertreten sowie die Zeugen, Hinterbliebenen und Opfer, sind sich bewusst über mögliche Risiken von Einschüchterungen und Bedrohungen, die eine Teilhabe an der Klage mit sich bringen kann. Die Möglichkeit einer vollständigen Untersuchung bedeutet für viele Hinterbliebenen zumindest eine Anerkennung ihres Verlustes. „Wir haben so lange darauf gewartet. Viele Male fühlten wir uns müde, wir fühlten uns hoffnungslos, aber wir haben durchgehalten. Wenn wir nicht weiter für Gerechtigkeit kämpfen, wird der Tod unserer Liebsten nichts bedeuten,“ so eine Klägerin.
Obwohl der Oberste Gerichtshof (SC) am 17. März 2019 im Zuge des vorangegangenen vorläufigen Ermittlungsverfahrens den Rückzug vom IStGH der Philippinen bestätigte, ist der IStGH dennoch zuständig für den Fall, da die Klage bereits vorher eingereicht wurde. Dennoch ist eine Untersuchung durch den IStGH nur zulässig, wenn bewiesen werden kann, dass die Philippinen nicht fähig und willens sind, die extralegalten Tötungen im Kontext des sogenannten Krieges gegen die Drogen innerhalb des nationalen Rechtssystems juristisch aufzuarbeiten. Ob Duterte oder andere Personen überhaupt nach einer Verurteilung eine Strafe antreten würden, bleibt fragwürdig. Der IStGH kann keine Abwesenheitsprozesse führen, und eine Verhaftung wäre demnach abhängig von der Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden der Philippinen.