Temogen „Cocoy” Tulawie

Temogen „Cocoy“ Tulawie ist ein bekannter Menschenrechtsverteidiger aus Jolo, Sulu, in den südlichen Philippinen. Er war der Leiter des Regionalbüros des Consortium of Bangsamoro Civil Society (CBCS) in Sulu und der Gründer der lokalen Menschenrechtsgruppe Bawgbug. Von 2004 bis 2006 war Tulawie Mitglied des Gemeinderates der Provinzhauptstadt Jolo und Mitbegründer der Concerned Citizen’s of Sulu, einer Bürgerorganisation, die sich für eine Demokratisierung lokaler Politik, Transparenz innerhalb der Regierungsführung und die Bewahrung bürgerlicher Rechte der Einwohner:innen Sulus einsetzt.

Seine Kampagnen enthüllen etliche Menschenrechtsmissbräuche und -verletzungen seitens der Lokalregierung in Sulu, darunter die Massenvergewaltigungen von Frauen und Mädchen, begangen von den Söhnen prominenter Politiker und ihrer paramilitärischen Schutztruppen, und die nicht verfassungsgemäße Notstandsausrufungen durch Provinzgouverneur Abdulsakar Tan.

Tulawie wurde beschuldigt, Drahtzieher eines Bombenanschlags auf Provinzgouverneur Tan am 13. Mai 2009 zu sein, obwohl keinerlei Indizien diesen Verdacht begründeten. Im Gegenteil belegten mehrere Zeug:innenaussagen, dass Tulawie zum Tatzeitpunkt nicht vor Ort war.

Obwohl zwei der drei ihn belastenden Zeugen ihre Aussagen schließlich zurückzogen und zugaben, zur Falschaussage gezwungen worden zu sein, kam es schließlich zur Anklageerhebung gegen Tulawie. Weil er keine Chance auf einen fairen und unabhängigen Prozess in Sulu, dem politischen Einflussgebiet des Gouverneurs, sah, tauchte Tulawie daraufhin unter. In den drei Folgejahren befand er sich auf der Flucht sowie in ständiger Angst um seine Familie und vor einer drohenden Verhaftung. In dieser Zeit wendete sich Tulawie an den Obersten Gerichtshof, um eine Verlegung des Gerichtsverfahrens auf neutraleren Boden, nach Davao City, zu erwirken. Am 13. Juni 2011 verfügte der Oberste Gerichtshof die Verlegung des Verfahrens mit der Begründung, dass Tulawies Leben und das seiner Familie bei einer Verhandlung in Sulu in permanenter Gefahr sei. Am 14. Januar 2012 wurde Tulawie schließlich in Davao City verhaftet und dort inhaftiert.

Wohl auf Anweisung des Provinzgouverneurs Tan versuchte das Gericht in Sulu jedoch, sich gegen die Anordnung des Obersten Gerichthofes zu stellen und Tulawie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zurück nach Sulu zu überführen. Allein das Eingreifen lokaler Menschenrechtsorganisationen konnte die unrechtmäßige Verlegung nach Sulu im letzten Moment verhindern. Daraufhin beantragte Gouverneur Tan mit der Begründung, dass Davao „feindlicher Boden“ für ihn sei, das Verfahren von Davao City nach Manila zu verlegen. Diesem Antrag wurde zugestimmt, obwohl Tulawies Leben mehreren Berichten zufolge bei einer Verlegung nach Manila durch inhaftierte Auftragskiller in Gefahr gewesen wäre.

Schließlich wurde bekannt, dass der letzte verbleibende Zeuge gegen Tulawie, ein bekennendes Mitglied der islamistischen Terrororganisation Abu Sayaf, selbst im Rahmen eines Rehabilitationsprogramms aus dem Gefängnis entlassen wurde. Die Vermutung lag nahe, dass dies als Belohnung für seine Gefälligkeitsaussage und auf Anordnung von Tan geschehen ist.

Nach über drei Jahren in Haft wurde Tulawie freigesprochen. Dass der Freispruch von Tulawie trotz der Unstimmigkeiten und schwachen Beweislage mehrere Jahre dauerte, zeigt die mangelnde Unabhängigkeit der philippinischen Justiz. Der Kriminalisierungsfall von Tulawie ist auch ein klassisches Beispiel dafür, wie Menschenrechtsverteidiger:innen selbst zu Opfern von Menschenrechtsverletzungen werden. Die Drahtzieher:innen konstruierter Anklagen machen sich das dysfunktionale Justizsystem mit seinen langwierigen Prozessen zunutze. Dabei bleiben auch Unschuldige oft für mehrere Jahre in Untersuchungshaft. Wie im Fall Tulawie werden konstruierte Anklagen in den Philippinen deshalb von Politiker:innen und dem Militär strategisch eingesetzt, um Menschenrechtsverteidiger:innen mundtot zu machen.

Am 8. Mai 2017 war Tulawie erneut mit einer fabrizierten Anklage konfrontiert. Er wurde beschuldigt, der Drahtzieher der Entführung des deutschen Journalisten Andreas Lorenz zu sein. Lorenz wurde im Jahr 2000 selbst entführt, als er für das Magazin Der Spiegel über die Geiselkrise in Sidapan und die Entführung der deutschen Familie Wallert durch Mitglieder der Abu Sayyaf-Gruppe berichtete.

Während der Entführung von Lorenz vermittelte Tulawie den Kontakt zwischen den Geiseln und internationalen Journalisten. Zwei dieser Journalisten, Olaf Ihlau und David McIntyre, die in dieser Zeit mit Tulawie zusammengearbeitet haben, behaupten jedoch, er sei nicht an der Entführung beteiligt gewesen und haben seine Unschuld beteuert. Die Staatsanwältin Annie Ledesma hatte diese entlastenden Beweise nicht nur ignoriert, als sie 2017 Anklage gegen Tulawie erhob. Sie tat dies auch trotz eines offensichtlichen Interessenkonflikts, da Tulawie zuvor eine Verwaltungsanzeige gegen sie eingereicht hatte.

 

In den Jahren 2012 und 2013 sowie 2017 hat das AMP Appellbriefe an die philippinische Regierung geschickt, mit der Forderung, eine unverzügliche und unabhängige Untersuchung der Umstände, die zur Kriminalisierung von Tulawie geführt haben, einzuleiten und die fabrizierte Anklagen fallen zu lassen.

Download (PDF): AMP-Schreiben an Präsident Aquino zur Verhaftung von Tulawie 2012 (Engl.)

Download (PDF): Antwortschreiben der EU-Delegation in Manila 2012 (Engl.)

Download (PDF): AMP-Schreiben an den Obersten Gerichtshof in den Philippinen 2012 (Engl.)

Download (PDF): AMP-Schreiben an Präsident Aquino zur Verhaftung von Tulawie 2013 (Engl.)

Download (PDF): AMP-Schreiben an Justizministerin De Lima zur Verhaftung von Tulawie 2013 (Engl.)

Download (PDF): AMP-Schreiben an Justizminister Aguirre zur konstruierten Anklage gegen Tulawie 2017 (Engl.)

 

Update: 2. Februar 2023

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